Christian Dürr: Damit wäre Friedrich Merz der erste sozialistische Bundeskanzler
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Dürr gab der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ folgendes Interview. Die Fragen stellten Lisa Caspari und Ferdinand Otto.
Frage: Herr Dürr, heute vor genau einem Jahr zerbrach die Ampel. SPD, Grüne und FDP hatten sich heillos zerstritten, bei einem Treffen im Kanzleramt sollte ein letztes Mal versucht werden, die Koalition zu retten. Wann war Ihnen klar: Es ist aus, es ist vorbei?
Dürr: Endgültig klar war es mir an diesem Abend des 6. November. Wir hatten noch Signale bekommen, dass SPD und Grüne eventuell doch bereit wären, etwas in der Wirtschaftspolitik zu verändern. Doch dann hat der Kanzler von uns eiskalt verlangt, die Schuldenbremse zu brechen. Wir haben uns beraten: Das geht nicht mehr.
Frage: Sind Sie überhaupt mit dem Willen reingegangen, sich zu einigen?
Dürr: Ganz klar: ja.
Frage: Nach Recherchen der ZEIT hatte ihre Partei schon Wochen vorher einen Plan für einen “D-Day” und eine “offene Feldschlacht” entworfen. Mit dem Ziel: aus der Koalition auszusteigen.
Dürr: Jeder musste sich auf verschiedene Szenarien vorbereiten. Ich kannte dieses Papier nicht. Da ging es um ein mögliches Scheitern genauso wie um denkbare Kompromisse. Es würde niemand sagen, dass das Wording kein Fehler war – es war damit sehr einfach, uns zu unterstellen, dass es uns nicht um die Sache ging. Ich kann Ihnen aber versichern: Ich habe keine Spielchen gespielt, sondern eine tonnenschwere Verantwortung auf meinen Schultern gespürt.
Frage: Als es vorbei war: Sind Sie am nächsten Morgen erleichtert aufgewacht?
Dürr: Ich war erleichtert, einerseits, denn dieser monatelange Stillstand war eine Qual. Andererseits war mir natürlich klar: Ab jetzt haben wir all die Besitzstandswahrer zum Gegner. Gemeint sind SPD und Grüne, aber auch die Union. Mir war bewusst: Das wird sehr, sehr hart.
Frage: Was bereuen Sie? Vielleicht, nicht doch länger durchgehalten zu haben?
Dürr: Dass eine Koalition durchhält, ist noch kein Wert an sich. Wir wollten das Beste für das Land und die Menschen, für Jobs und Aufschwung. Da hat die Ampel zuletzt nichts zustande gebracht. Das ist meine Lehre aus den Regierungsjahren: Ich werde die FDP nie in eine Koalition führen, in der nicht echte Reformpolitik gemacht wird.
Frage: Von der “offenen Feldschlacht” ging es für die FDP ziemlich schnell in die außerparlamentarische Opposition: Ihre Partei ist im Februar aus dem Bundestag geflogen, fast alle Führungspersönlichkeiten sind abgetreten. Fragen Sie gelegentlich noch Christian Lindner um Rat?
Dürr: Im Vergleich zu anderen Parteivorsitzenden habe ich ein großes Glück: Mein Vorgänger erteilt mir öffentlich keine klugen Ratschläge.
Frage: Wer ist die FDP ohne Christian Lindner?
Dürr: Eine spannende Partei. Ich muss schmunzeln, wenn Politik so oft auf einzelne Charaktere reduziert wird. Ich glaube, Parteien müssen ein Angebot machen, dem die Menschen vertrauen. Und die Menschen fordern Veränderungen. Daher wollen wir die Partei der radikalen Mitte sein.
Frage: Gibt es nicht schon genügend Radikalinskis in der Politik?
Dürr: Sie denken jetzt an Extremismus an den politischen Rändern. Diese Extremisten nutzen die Probleme der Menschen, um sich politisch zu profilieren. Sie haben kein Interesse daran, sie zu lösen. Wir sind eine Partei der Mitte, die für radikale Veränderung steht, und wollen genau diese Probleme beseitigen. Das Wort Radikal kommt von Radix, also von der Wurzel her. Status quo, können Union, SPD und Grüne wunderbar. Es braucht eine Partei, die sagt: Wir können und wollen radikale Reformen.
Frage: Sind die Menschen nicht der ständigen Reformankündigungen müde? Christian Lindner forderte 2024 einen “Herbst der Entscheidungen”, Friedrich Merz 2025 einen “Herbst der Reformen”. Passiert ist wenig.
Dürr: Daran sieht man leider, wie schnell die aktuelle Regierung da gelandet ist, wo die Ampel nach dreieinhalb Jahren war. Und dass viele Schulden Reformen nicht ersetzen können. Ich bin überzeugt, wenn man den Mut hat, dann gelingen Reformen. Der Ampel fehlte mehrheitlich der Mut. Die neue Koalition hat diesen Mut leider auch nicht. Deshalb braucht es uns. Die FDP ist bereit, ins Risiko zu gehen, das hat sie mehrfach bewiesen. Und die Menschen im Land wollen, dass sich was verändert. Nehmen Sie die Rente: Was da gerade von Schwarz-Rot beschlossen wird, sind Leistungsausweitungen, die die junge Generation belasten und Jobs in Deutschland gefährden, weil die Kosten sozialversicherter Beschäftigung steigen. Deutschland hat in diesem Jahr eine Staatsquote von über 50 Prozent, im nächsten Jahr sind es 51 Prozent. Helmut Kohl hat mal gesagt: Ab 50 Prozent beginnt der Sozialismus. Damit wäre Friedrich Merz der erste sozialistische Bundeskanzler in Deutschland.
Frage: Die FDP setzt dagegen auf Aktien zur Finanzierung der Sozialversicherung. Viele Finanzexperten warnen gerade vor einem großen Börsencrash – ist der freie Kapitalmarkt wirklich der beste Ort für Renten?
Dürr: Friedrich Merz hat mal zur Aktienrente der FDP gesagt, das seien Hedgefonds-Methoden, da musste ich sehr lachen. Das Umlagesystem ist doch gescheitert, zumindest in seiner jetzigen Form. Nicht nur die Rente, auch die Krankenversicherungen sollten Kapitalrücklagen am Aktienmarkt bilden. Was wir heute über das Umlagesystem einzahlen, wird binnen weniger Wochen wieder ausgegeben. Nur ein Kapitalstock bringt echte Vorsorge, gerade für Zeiten, in denen die Konjunktur nicht läuft. Von wenigen Dellen abgesehen wächst die Weltwirtschaft konstant. Und sollte die Wirtschaft kollabieren, dann ist doch das Umlagesystem das erste, das in die Knie geht: Viele Arbeitslose heißt, weniger Einzahler und noch größere Schieflage. Andere Länder, wie Schweden, nutzen den Kapitalmarkt seit Jahrzehnten erfolgreich.
Frage: Das Versprechen von guten Renten oder einer guten Gesundheitsversorgung kann doch aber der Staat nicht allein an die aktuellen Börsenkurse auslagern.
Dürr: Es geht nicht um kurzfristige Börsenkurse, sondern langfristiges Wachstum. Das aktuelle System ist unsozial. Nehmen Sie die Rente: Ein Geringverdiener, der heute in die gesetzliche Rente einzahlt, wird auch bei Vollzeitarbeit in die Altersarmut fallen. Weil diese Menschen einfach gar nicht so viel einzahlen könnten, um über das in Schieflage geratene Umlagesystem eine auskömmliche Rente rauszubekommen. Wenn wir dieser Gruppe erlauben, mit ihren jetzigen gesetzlichen Rentenbeiträgen einen Kapitalstock aufzubauen, würden gerade Menschen mit kleinem Einkommen besonders profitieren.
Frage: Auch eine Aktienrente, wie sie die FDP in der Ampel wollte, bräuchte erst mal eine Anschubfinanzierung. Woher soll das Geld kommen?
Dürr: Wenn die Regierung auf ihre teuren Wahlversprechen und Mehrausgaben verzichten würde, wäre schon ein guter Teil bezahlt. Ich denke da zum Beispiel an die Mütterrente.
Frage: Verzichten könnte man auch auf teure Steuersenkungen etwa bei der Gastronomie, die auch die FDP fordert.
Dürr: Wir reden dort ja nicht von Ausgaben, sondern von zu hohen Einnahmen des Staates. Eine Steuersenkung in der Gastronomie wiederum halte ich für richtig, allein um den absurden Wildwuchs bei Steuertarifen, etwa in der Innen- oder Außengastronomie, zu beenden.
Frage: Nächste Alternative: Der Staat könnte die Gerechtigkeitslücken etwa bei der Erbschaftssteuer schließen. Da sind sie dagegen.
Dürr: Höhere Steuern sind das Letzte, was der Standort im Augenblick braucht. Die zentrale Frage ist doch, hat der Staat wirklich ein Problem auf der Einnahmeseite? Oder ist nicht eher das Problem, dass er das Geld vollkommen ineffizient ausgibt? Davon bin ich jedenfalls überzeugt: Der Staat hat zu viel Geld, das er durch seine Hände schleust. Übrigens nicht mit dem Ergebnis, dass die Menschen glücklicher macht. Die Staatsausgaben steigen und steigen, aber die Laune im Land wird immer schlechter.
Frage: Steuerpolitik hängt doch unmittelbar mit Gerechtigkeitsempfinden zusammen: Wer ein Haus erbt, wird sehr wahrscheinlich Steuern darauf zahlen, wer 300 erbt, gilt als Unternehmer und geht unter Umständen steuerfrei aus.
Dürr: Das Ungerechte an der Erbschaftssteuer ist: Sie besteuert die Substanz, nicht Gewinn oder Ertrag. Und in den meisten Fällen wird ja nicht ein Goldbarren vererbt, von dem der Staat einfach ein Stück abschmilzt, sondern investiertes Vermögen. Wenn man etwa ein Unternehmen, das von einer auf die nächste Generation übergeht, krass besteuert, macht das Deutschland nicht gerechter, sondern es gehen Jobs verloren. Ich möchte kein Volksvermögen, sondern ich will ein Volk von Vermögenden, von Menschen, die sich was aufbauen können.
Frage: Bleiben wir beim Beispiel Immobilien, nicht beim Familienunternehmen.
Dürr: In dem Mietshaus, das vererbt wird, wohnen doch Menschen, für die wird die Miete steigen. Die Erbschaftssteuer muss ja wieder reinkommen.… Ein großer Staat mit vielen Steuereinnahmen und hoher Belastung ist nicht der bessere Staat. Er muss sich vielmehr auf seine Kernaufgaben, wie etwa Bildung und Sicherheit, konzentrieren und dafür an anderer Stelle zurücknehmen.
Frage: Also folgt die neue FDP mehr der Lehre Javier Mileis als der sozialliberalen Politik des niederländischen Wahlsiegers D66?
Dürr: Wir sind weder Argentinien, noch die Niederlande. Und die FDP kopiert nicht, sie macht eigenständige Politik. Wir wollen einen schlankeren Staat, aber auch, die Lebenshaltungskosten der Menschen senken, so dass sie sich für die Zukunft ein Vermögen aufbauen können. Wir stehen für Marktwirtschaft und Bürgerrechte. Ist das jetzt mitfühlender Liberalismus oder Kettensäge? Ich überlasse Ihnen die Interpretation.
Frage: Die Ampel scheiterte vor einem Jahr, weil Olaf Scholz für wenige Milliarden Euro eine Ausnahme von der Schuldenbremse wollte, die FDP nicht. Der aktuellen Koalition fehlen bis zu 30 Milliarden in den kommenden Jahren. Würden Sie darauf wetten, dass diese Regierung ebenfalls am Streit ums Geld zerbricht?
Dürr: Ich wette nicht bei so ernsten Themen, das ist mir zu spielerisch. Die Regierung plant in den kommenden Jahren fast eine Billion Euro neue Schulden zu machen. Ich verstehe gar nicht, wie denen das Geld fehlen kann. Wenn diese Koalition keine Reformen zustande bringt, ist sie gescheitert, unabhängig davon, wie lange sie im Amt sein wird.